Bewegende Bilder oder den Tanz im Augenblick festhalten

Tanzfotografie ist eine einzigartige Kunstform, die mich seit etlichen Jahren mehr und mehr fasziniert. Als ich 2009 in Syrien die Gelegenheit hatte, über die Damascus Contemporary Dance Platform zu berichten, wurde in mir als jungem Fotografen und Journalisten ein großes Interesse an der universellen Körpersprache des Tanzes geweckt, die geheimnisvoll, aber gleichzeitig immer auch verständlich erscheint. Anhand meiner persönlichen Erfahrung möchte ich einige Gedanken über die Beziehung zwischen Tanz und Fotografie mitteilen und damit das Ziel meines Forschungsprojekts „Alles tanzt!”, das durch die Unterstützung von DIS-TANZ-SOLO ermöglicht wurde, verdeutlichen.

Die Corona-Pandemie hat meine fotografische Arbeit drastisch reduziert, auch weil Theater, Museen, Kunstgalerien und Bildungseinrichtungen ganz oder teilweise geschlossen waren. Inmitten der Ungewissheit und der Lebensängste, die diese Situation auch in mir erzeugte, kam mir der Gedanke, dass die Pandemie auch eine Art von Aufruf sein könnte, neue Wege des Denkens und Sehens durch das Prisma der Fotografie zu suchen. Die Tatsache, dass ich lange Zeit in meiner Wohnung isoliert war, war frustrierend. Aber sie gab mir auch genug Zeit, um in mein Fotoarchiv mit über 60.000 RAW-Aufnahmen einzutauchen, die zwischen 2010 und 2021 bei Proben, Live-Tanzperformances, Choreografie-Workshops und Tanz-Events in städtischen Räumen entstanden sind.

Das Jahr 2010 markiert den Beginn meiner Zusammenarbeit mit Kosmas Kosmopoulos, dem künstlerischen Leiter und Choreografen der Initiative LUNA PARK, die bis heute faszinierend und visuell herausfordernd ist. Diese Zusammenarbeit hat mich zu einigen meiner aufregendsten Fotos inspiriert und mich motiviert, intuitive Techniken zu finden, um die flüchtigen Momente des Tanzes im Bild festzuhalten.

Die Arbeit an meinem Archiv ermöglichte es mir, meine Herangehensweise an die Ästhetik der Fotografie in zweifacher Hinsicht zu überdenken und zu erweitern: aus der Sicht des kreativen und produzierenden Künstlers, aber auch aus der Distanz des bloßen Betrachters. Für mich persönlich waren nicht nur die Momente des Tanzes selbst von großer Bedeutung für die Findung einer neuen Tiefe, eines neuen Bezugspunkts in meiner fotografischen Praxis. Es waren auch die Momente des stillen Nachdenkens über den Tanz, eingefangen vom menschlichen Auge (oder dem Auge der Kamera). So habe ich mich auf meiner fotografischen Reise in der Welt des Tanzes zum Beispiel oft gefragt, wie ich die Grenzen zwischen Dokumentar- und Kunstfotografie, zwischen Realität und Fantasie, auflösen kann. Eine einfache Antwort, die sich im Laufe der Untersuchung ergab, ist, dass Tanzfotografie sowohl als künstlerisches als auch als dokumentarisches Genre funktioniert. In jedem Fall ist die Tanzfotografie eine einzigartige Kunstform, die eine sekundenschnelle Bewegung einfängt und in einem immer wieder abrufbaren Medium visuell bestehen lässt. Als Aufführungskunst ist der Tanz wahrhaftig ephemerer Natur. Er findet an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit statt. Ist die tänzerische Aufführung beendet, ist der Tanz gewissermaßen verschwunden. Was er bei den Aufführenden und den Zuschauern hinterlässt, sind Spuren der Erinnerung, die im Laufe der Zeit verblassen. Gute – vielleicht die einzigen – Mittel, dieses Verblassen aufzuhalten und das Erlebte zu bewahren, sind Fotografie und Film.

Eine weitere Frage, die mich häufig beschäftigt, ist, wie die Fotografie die schwer fassbare zeitliche Dimension des Tanzes einfangen kann. Während der Tanz eine fließende und kontinuierliche Bewegung in Zeit und Raum ist, fragmentiert die Fotografie die Zeit und zerbricht den Raum. Mit anderen Worten: Die Fotografie zeigt den Tanz unweigerlich ohne Bewegung. Und genau hier liegt die lange historische Beziehung zwischen Tanz und Fotografie. Die meisten Menschen, die sich für Tanz oder Fotografie interessieren, werden feststellen, dass es einige Bilder gibt, die sie auf kinästhetische Weise ansprechen, Bilder, die sich offensichtlich nicht bewegen, aber doch den Eindruck der Bewegung vermitteln. Die angeborene Fähigkeit des Betrachters, ein Bild, das Emotionen durch Körperbewegungen ausdrückt, zu “lesen”, wurde als kinästhetische Empathie definiert. Wenn das Ziel die Bewegungskommunikation ist, muss das fotografische Bild bereit sein, sich zu bewegen, und das ist es, was viele namhafte Theoretiker als die zentrale Kraft der effektiven Fotografie beschrieben haben.

Tanzfotografie ist für mich jedoch nicht nur die Suche nach dem einen perfekten Foto, das Bewegung vermittelt. Es ist mein Bestreben, die Gefühle dieser Bewegungen wiederzugeben und zu vermitteln, die künstlerische Kluft zwischen der Tanzsprache und der Realität, die sie zu beschreiben versuchen. Die Bewegungen des tanzenden Körpers sind durch ständige Interaktion mit den räumlichen und zeitlichen Gegebenheiten der Natur geprägt, die sich in einem Satz zusammenfassen lassen, der mich zum Titel meines Projekts inspiriert hat und der von der amerikanischen Dichterin und Aktivistin Maya Angelou stammt: “Alles im Universum hat einen Rhythmus. Alles tanzt.”

Während ich mein Archiv durchging und jedes Foto wieder und wieder betrachtete, entstand die Idee, einen Bildband mit den besonderen visuellen Realitäten zu schaffen, die die Poetik des Tanzes (wieder) präsentieren. Nachdem ich sechs Monate mit der Bearbeitung der Fotos verbracht hatte, verfügte ich über die Grundlage für die Gestaltung eines solchen Bildbands mit Motiven, die den Betrachter dazu einladen, den Emotionen und der Sinnhaftigkeit des tanzenden Körpers in Zeit und Raum nachzuspüren. Der Bearbeitungsprozess umfasst die sorgfältige Nachbearbeitung der Raw-Formate, es geht um die Ausgewogenheit der positiven und negativen Bereiche in jedem einzelnen Bild mit seinen jeweils einzigartigen Kontrasten, Schatten, Lichtern und Farben.

Der Bildband wird eine breite Palette von Fotos enthalten, die einige der vielen Wege illustrieren, auf denen Tanz entsteht, wie z. B. die Konzeption, das Experimentieren, das Proben und schließlich die Inszenierung der frühen und neueren choreografischen Arbeiten von LUNA PARK. Einige Motive zeigen die Fähigkeit der Tänzer, ihre technische Virtuosität in exquisite Emotionen und verkörperte Tanzerfahrungen zu verwandeln. Andere Fotos zeigen die reine Freude an der Bewegung und die Ausdrucksfreiheit von Kindern, meist mit Migrations- oder Fluchtgeschichte, in Tanz- und Theaterworkshops und in mit ihnen inszenierten Aufführungen. Der Kontakt zwischen professionellen Tänzern und Kindern in diesen meist ortsspezifischen Präsentationen bietet eine faszinierende visuelle Kulisse, in der Tanz, Fotografie und physische Umgebung auf poetische Weise verschmelzen.

Die im Bildband enthaltenen Fotografien werden ein Wechselspiel zwischen dokumentarischer und künstlerischer Komposition sein. Insgesamt zeigen sie die Kontinuität und Entwicklung der künstlerischen Arbeit von LUNA PARK, aber auch die großen Herausforderungen, denen sich ein Fotograf stellen muss, um die Bedeutung des Tanzes zu erfassen und zu bewahren. Der Bildband könnte den Titel “Stills, Moving Images” oder auch den des Projekts tragen „Alles tanzt.“

Ich freue mich auf den Gedankenaustausch zu dieser Arbeit, mit Praktikern und Theoretikern aus dem Bereich Tanz und Fotografie.

Giovanni Lo Curto

„Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland.“

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Gio